La Vega

Ein majestätischer Anblick: Zum ersten Male in diesem Winter hat der Teide eine weiße Kappe. Der höchste Berg Spaniens (3.719 m) wirkt an diesem bewölkten Tag beinahe bedrohlich und will so gar nicht zur palmengesäumten Urlaubsstimmung in Puerto de la Cruz passen.

Wir haben uns für heute einen Ausflug nach Icod de los Vinos und Umgebung vorgenommen, der ganz anders enden sollte, als er ursprünglich geplant war.

Mit dem Auto ist der Weg ein Katzensprung. Von Puerto de la Cruz über San Juan de la Rambla kommt man auf der C-820 schnell voran. Die beeindruckende Sicht auf das Meer wird immer wieder durch die vielen kleinen Tunnel unterbrochen, die das Gestein auf halber Höhe durchpflügen. San Juan de la Rambla bietet nichts Besonderes. Bauern arbeiten auf den Bananenplantagen der niedrig gelegenen Terrassen. Wir sollen nach Las Aguas fahren – das sei sehr schön, werden wir aufgefordert. Ein anderes Mal, heute ist keine Zeit. Wer läßt sich schon gern von einem einmal gefaßten Ziel abbringen, selbst wenn eventuell Schöneres winkt. Die deutsche Gründlichkeit setzt sich durch: Icod de los Vinos hieß und heißt das Ziel.

Dort angekommen enttäuscht die Einfahrt, wofür der Betrachter Augenblicke später durch die gemütliche Einkaufszone entschädigt wird. Das müßte man doch zur Fußgängerzone machen, kommt beinahe unausweichlich der Kommentar, der wieder einmal glasklar macht, daß es nichts Schönes gibt, zu dem wir nicht noch diese so wichtigen Verbesserungsvorschläge haben. Die Geschäfte sind zum Teil schon weihnachtlich geschmückt. An anderer Stelle arbeitet man noch heftig daran, daß der Christstern endlich gerade hängt. Geschmackvolle Dekorationen ohne Protz lassen diese Einkaufszone sehr attraktiv erscheinen.

Nach der Parkplatzsuche, nicht ganz so nervenaufreibend wie in Puerto de la Cruz wenige Stunden vorher, steigen wir die steilen Gäßchen hinauf. Herrliche Beispiele kanarischer Architektur entschädigen reichlich für die körperliche Anstrengung. Weg vom Strom, von der Hauptstraße und schon ist die Welt eine andere. Fruchtbar wirkt die Umgebung von Icod. Und kühl ist es hier: Die mitgebrachte Jacke ist jetzt wichtig. Eine Frau in traditionell schwarzer Kleidung fragt, ob die deutschen Besucher denn schon den „Drago millionario“ bestaunt hätten. Nein, aber das wird nicht ausgelassen, wo kämen wir denn hin!

Sie erzählt von den guten Weinen, die in Icod produziert werden und von der Höhle Cueva del Viento, dem größten vulkanischen Tunnel der Welt. Weißwein sollen wir kaufen als Souvenir, meint sie und berichtet, daß die Einwohner von Icod am Tag des Heiligen Andreas (San Andrés) den Tag des Weines feiern. Auf Brettern rutscht man an diesem Tag die Straße des Leidens (Calle del Calvario) hinunter zum Spektakel der Zuschauer. Wer den Neigungswinkel dieser Straße gesehen hat, ist ganz sicher, daß er lieber zu den Zuschauern gehört, als den eigenen Hosenboden dem ach so rauhen Pflaster preiszugeben – von den Knien und anderen Körperteilen ganz zu schweigen, deren Kollision mit den umliegenden Hauswänden der Bausubstanz des Ortes schweren Schaden zufügen würde.

Also auf zu dem Drachenbaum, damit wieder ein Punkt des Reiseführers abgehakt werden kann. Der riesige Baum (Dracaena draco) ist altersschwach, sein Stamm muß gestützt werden. Wie denn auch nicht: Sein Alter wird mit über 2.000 Jahren angegeben. Den roten Pflanzensaft der Drachenbäume nannten die Guanchen „Drachenblut“ und benutzten ihn als Heilmittel. Besonders innere Verletzungen und Geschwüre soll er hervorragend heilen. Heute heilt der Drachenbaum von Icod de los Vinos eher finanzielle Beschwerden des Ortes. Er sorgt dafür, daß viele Neugierige kommen, um ein Foto der botanischen Sensation mit nach Hause zu nehmen.

Der Ausflug nimmt eine überraschende Wendung. Ein freundlicher Bewohner des Ortes erzählt von einem kleinen Dorf namens La Vega, wenige Kilometer entfernt in den Bergen. Dort gebe es ungewöhnlich viele Blinde, berichtet er und niemand könne sich den Grund dafür erklären. Schon sitzen wir im Auto.

In wenigen Minuten sind wir in La Vega, einem verschlafenen Bergdorf von knapp 2.000 Einwohnern. Der Mietwagen hätte für die steile Anfahrt gerne mehr als 45 PS haben dürfen. Auf dem Kirchplatz sitzen drei alte Leute und halten einen Schwatz in der Sonne. Niemand mustert die fremden Ankömmlinge mißtrauisch oder gar feindselig. Ganz im Gegenteil: die Gelegenheit für einen Schwatz mit den Fremden bietet willkommene Abwechslung. Ja, richtig, Blinde gebe es leider viele im Dorf. Und niemand habe eine Erklärung dafür, warum gerade hier und aus welchem Grund. Man nennt uns ihre Namen und die jeweiligen Verwandtschaftsgrade. Es scheint, als bestehe der ganze Ort aus einer einzigen Sippe.

„Reden Sie doch mal mit ‚Manuel, dem Blinden‘ oben im Dorf“, rät die nette alte Dame. Gesagt, getan! Der VW Polo will es nicht für möglich halten, daß er die engen Gassen wirklich hinaufklettern soll – wir haben jedoch kein Mitleid. Abgerissene Schienen kreuzen die Straße. Sie kommen aus einer „galeria“, aus der früher Trinkwasser geschöpft wurde. „Manuel, el ciego“ wohnt nur wenige Meter weiter. Das große Metalltor schwenkt beim Anklopfen gleich auf – Stallgeruch strömt aus dem Hof. Drinnen sitzt auf der Treppe ein vielleicht 50 Jahre alter Mann mit einem schwarzen Hut. Manuel bittet uns freundlich und ohne jede Scheu herein.

Wie tritt man einem Blinden entgegen, der nicht sehen kann, daß man gewinnbringend lächelt, um Vertrauen nachsucht? Muß der Mann nicht automatisch mißtrauisch werden, wenn ihm unangesagt drei Ausländer ins Haus schneien? Manuel zeigt in seinem gütigen Selbstbewußtsein, wie wenig unsere zivilisatorische Verdorbenheit mit seinem Landleben zu tun hat. Er sei von Geburt an blind, erzählt er freimütig, genau wie die anderen im Dorf, von denen immer behauptet werde, sie könnten nichts sehen. Manuel bleibt auf derselben Stelle sitzen, nuckelt gemütlich an seiner Pfeife, die vermutlich schon lange nicht mehr brennt. Stolz erzählt er von dem blauen Papagei im Käfig. Beinahe 25 Jahre habe er den schon. Und die anderen Vögel in den Käfigen? Na ja, die Namen der Arten kennt er nicht, aber sie machen ihm genauso viel Freude wie die Hühner auf dem Hof.

Manuel lacht: Wie soll er denn eine Erklärung für die vielen Blinden im Dorf haben, wenn die Ärzte schon nichts wüßten. Seltsam sei das Ganze, meint er. Schon deswegen, weil keines der Kinder von den Blinden eine Beeinträchtigung der Sehfähigkeit aufweise. Wie alt er sei? Manuel brummelt eine unverständliche Zahl, die klar macht, daß Zahlen nicht gerade sein Stärke sind, wenn es um sein Lebensalter geht. Wozu auch? Der Tag ist schön und ruhig, das Leben angenehm – was würde eine Zahl dran ändern können?

Der blinde Mann freut sich über den Besuch, der keinerlei Belästigung darstellt, so sagt er jedenfalls und hat auch keinerlei Einwände, als er gefragt wird, ob wir ein Foto für die Zeitung von ihm schießen dürfen. Ich werde den Eindruck nicht los, als sei nichts und niemand in der Lage, die harmonische Welt dieses Mannes zu erschüttern. Nach der Verabschiedung und schon wieder im Auto fragen wir uns, wer von den Anwesenden im Hof eigentlich „behindert“ war. Ist unsere dünne Zivilisationsmaske, auf die wir oft so stolz sind, nicht viel mehr Behinderung als die ruhige offene Welt eines Blinden, der vielleicht mehr sieht, als wir je sehen werden? Frohe Weihnachten, Manuel, und hoffentlich auf bald.