Taganana

Nehmen Sie sich viel Zeit, wenn Sie uns jetzt in den Norden folgen: Dieser Tag wir Ihnen und Ihrer Kamera und Ihrem Fahrzeug unvergeßlich bleiben – seien Sie versichert. Am Ende unseres heutigen Ausflugs haben Sie ziemlich sicher ein ganz anderes Konzept vom Begriff „Kurve“.

Zunächst sah das alles ganz harmlos aus. Von Santa Cruz an der Küste entlang Richtung San Andrés, vorbei an zerklüfteten Barrancos, die von der Erosion zerfressen sind, ist die Straße breit und kein Problem. Die Steilküste am Nordende der Hauptstadt wäre ein wirkliches Spektakel, würden nicht die häßlichen Industrieanlagen den Eindruck trüben.

Mittelgroße Schiffchen liegen im Trockendock einer Werft. Ein mit Holzteilen beladener großer LKW donnert über die rote Ampel hinweg – da kennt er nichts! Rechts neben uns steht ein bestimmt 20 Jahre alter Mercedes 280. Sein Fahrer, ein etwas klassisch aussehender älterer Canario fährt ihn und lächelt vornehm über diejenigen, die mit Kamera und Tonband versuchen, ihren Weg für die Nachwelt zu dokumentieren. In der zerklüfteten Schlucht hoch droben sieht man Höhlen, die offensichtlich bewohnt sind. Cementos Canarios Lacsa S.A., die riesigen Tanks von Cepsa und Disa – sie machen diese Gegend keinesfalls schöner. Da fällt das hübsche Gebäude des Nationalen Instituts für Ozeanographie, das in den Felsen gebaut wurde, doppelt auf.

Hinter San Andrés kommt ein toller weißer Sanstrand ins Blickfeld: Playa de las Teresitas. Direkt vor dem Strand, mehr als ein Kuriosum, ein Friedhof! Der weiße Sand, der aus der Sahara stammt, wird von Kokospalmen und „Uvas del Mar“ (Bäumen mit traubenähnlichen Früchten) begrenzt. Der Parkplatz, gesteckt voll, zeigt, wie beliebt die Playa de las Teresitas bei Einheimischen und Urlaubern ist. Selbst jetzt, nachmittags um drei, macht noch niemand Anstalten, das Badetuch zusammenzurollen. Kein Wunder: Angenehme Temperaturen unter einem stahlblauen Himmel strafen das Wort Winter dort Lügen, wo mit einer der sonnensichersten Flecken Teneriffas Badespaß garantiert.

Der Strand ist sauber, mit Sonnenliegen gut bestückt, ein DLRG-Posten sorgt für Sicherheit, ein etwa zehnjähriger Junge jagt eine Taubenschar. Fischerboote und Sportboote beweisen Eintracht zwischen Tradition und Moderne. Aber der Friedhof? Ein großes rot-weißes Coca Cola-Schild konkurriert um die Aufmerksamkeit der Betrachter mit den schlichten Holzkreuzen. Seit langem wird darüber gestritten, ob der Friedhof weg muß. Aber schließlich waren die Toten zuerst hier und die Badegäste drängelten sich später in die Stille. Seltsam sieht das schon aus, aber warum eigentlich sollen sich ein besinnlicher Friedhof und ein lebenslustiger Strand nicht als Nachbarn vertragen?

Zurück zur Kreuzung: El Bailadero, Taganana 13 Km, sagt das Schild und schon windet sich die Straße bergan. Es sollten die längsten 13 Kilometer Asphaltstraße werden, die wir je auf einer Kanarischen Insel gefahren waren! Über eine Brücke, die einen jetzt ausgetrockneten Kanal überspannt, weiter bergauf. Links ziehen sich noch ein paar Wohnhäuser den Berg hinauf, rechts unten tief im Tal die unvermeidlichen Bananenplantagen. Vor uns fährt der unvermeidliche Touristen-Bus. Weiter oben erlegt sich die Vegetation Selbstbeschränkung auf: Kakteen und Flechten dominieren die Flora.

Ein herrliches Bergpanorama: Österreich-Flair vor der afrikanischen Küste. Der Fahrer hat voll zu tun. Man könnte glauben, die maximal 30 Meter langen Geraden seien nur dazu gedacht, eine Kurve mit der anderen zu verbinden. Den Busfahrer kann man nur bewundern. Wie er das große Fahrzeug um die Kurven bringt, ist schon toll. Gut, daß er vor uns ist und nicht von oben entgegenkommt. Überholen? Nicht einmal daran denken! Plötzlich Bremslichter, der Bus stoppt abrupt in einer winkligen Kurve. Dem Fahrer des weißen Ford Fiesta, der frontal einen halben Meter vor der Schnauze des Ungetüms steht, ist der Schreck ins Gesicht geschrieben – da wäre wirklich kein Platz gewesen vorbeizufahren.

Je höher, desto weniger Vegetation – das kennt man beinahe als Naturgesetz. Hier spielt sich das Gegenteil ab. Immer grüner, je weiter es nach oben geht. Rechts eine Bar mit dem Namen „Las Hiedras“, die einen Stop wert ist: Der fantastische Blick über das weit ausgestreckte Tal fordert Bewunderung auf der Terrasse mit den Sonnenschirmen. Die Straße ist schmal und gewunden aber immer noch keinerlei Problem für den, der vorsichtig fährt. Wasserbehälter und, selbst hier oben noch, kleine landwirtschaftliche Nutzflächen schleichen sich zwischen die zerklüfteten Felsen.

90 Grad-Kurven werden mehr und mehr von 180 Grad-Biegungen abgelöst. Wie hoch mögen wir sein: Vielleicht 1.500 Meter? Kein Schild löst das Rätsel. In der inzwischen dichten und sogar hochwüchsigen Vegetation der Bergwelt … ein Schießstand – was es nicht alles gibt!

Licht an, es geht durch den Tunnel oben am Kamm. Auf der anderen Seite überblickt eine Felszinne ein majestätisches Panorama. 500 Meter weiter erlaubt eine Parkbucht einen kurzen Halt für spektakuläre Fotos. Taganana im grünen Tal vor der Weite des Atlantiks. Abwärts jetzt in Richtung Steilküste. Kein Zweifel, was hier oben wächst: Es riecht intensiv nach Anis. Nur das allerletzte Stück Straße vor Taganana weist einen etwas holperigen Belag auf. Bestimmt Absicht: Wer durch die lange Bergfahrt weggedöst ist, wird sofort wieder wach.

Gleich nach der Einfahrt ins Dorf fahren Sie am besten links und nicht weiter abwärts in Richtung Meer. Die Straße endet nach wenigen Metern bei einem winzigen Platz, den nur eine Telefonzelle belegt.

In der „Bar Picar“ bekommt der Besucher gleich den richtigen Eindruck von dieser Ansiedlung, die Autos, Antennen und Stromleitungen einmal abgezogen, perfekt aus dem vorigen Jahrhundert stammen könnte. Bauern finden sich hier nach der Arbeit auf dem Feld auf ein Bier zusammen. Das Ambiente ist mehr als bodenständig. Die Trockenheit und Fußball bilden hier beinahe die gesamte Themenbreite – an der Wand das Poster der Mannschaft vom FC Barcelona läßt keinen Zweifel darüber, wem die Sympathien gelten.

Weiter geht’s: Die Straße Canónigo Juan Negrín führt ohne Autoverkehr steil abwärts ins Dorf, vorbei an der Ortsapotheke. Frisch gestrichene Türen und Fenster in „Lanzarote-Grün“ bilden einen so eklatanten wie interessanten Kontrast zum Nachbarhaus, wo der Putz bröckelt und die Rahmen schon seit Urzeiten keine Farbe gesehen haben.

Vor der Kirche der Dorfplatz im Schatten eines großen Baumes – man glaubt sich in eine andere Epoche versetzt. Ein Tante-Emma-Laden, wenige Meter weiter ein kleiner Laden: Eine ältere Frau, die innen auf dem Fensterbrett sitzt und stickt, schaut freundlich herüber. Wir treten ein. Zwei nackte Neonröhren sind kaum in der Lage, eine uralte Holzbohlendecke zu verschandeln. Der Schrein mit dem Abbild der Jungfrau Dolores soll so alt sein wie das Haus mit den dicken Mauern, erzählt die beredte Dame: Über 200 Jahre. Sie verkauft arbeitsaufwendige Handarbeiten von sich selbst und drei Nachbarinnen zu wirklich zivilen Preisen. Die Dame hat jede Menge Geschichten auf Lager.

Zum Beispiel von den Zeiten, als Leute aus Santa Cruz und anderswo herkamen, um „orchillas“ in den Felsen hoch über Taganana zu sammeln – eine Pflanze (das Wörterbuch half uns auch nicht weiter), aus der Tinte gewonnen wurde zum Schreiben und Färben von Stoff. Mehr als einer stürzte dabei ab, als er sich von der riesigen Felszinne hoch über dem Dorf abseilte. Wegen der ständig präsenten Gefahr opferten diejenigen, die ihre Sammlerleidenschaft überlebten, einen Teil der Ausbeute „Las Animas“. Deswegen heißt die ehrfurchteinflößende Zinne bis heute so.

Wenn Sie einen Einblick in die Kultur kanarischer Hinterhöfe suchen, gehen Sie rechts statt links an der kleinen Kirche vorbei, die aus den Anfängen des 16. Jahrhunderts stammt und ein flämisches Triptychon beinhaltet. Hier und da huscht ein Mäuschen über das Kopfsteinpflaster. Einwohner huschen nicht – kaum einer läßt sich blicken. Dann doch jemand: Ein bezopftes Mädchen liegt ebenso lang wie faul mitten auf der Dorfstraße und denkt gar nicht daran, von uns Notiz zu nehmen. Aber auf ein freundliches „Buenas tardes“ reagiert sie schließlich doch. Mit mehr Neugier als Skepsis. Ein Katze räkelt sich unter einem Lieferwagen. Wenige Meter weiter werden wir von einem Schäferhund deutlich darauf hingewiesen, wer hier zu bellen hat und wer der Eindringling ist in Taganana.

Beinahe schon unten am Meer ein Erlebnis, das Nachwirkungen hat: Mit Karo-Hemd und Strohhut bekleidet, sitzt ein alter Mann draußen in der Sonne, die bald hinter den Bergen zu verschwinden droht. Er ist richtig glücklich, endlich jemanden zu finden, der ihm zuhört. Wir setzen uns zu ihm auf die Bank und lassen ihn erzählen. Kein Wasser gebe es in diesem Winter, klagt er und ist trotzdem ganz fröhlich dabei. Weder für die Felder, noch für das Vieh. Die Quelle oben unter dem Gipfel, die „galeria“ sei auch beinahe schon ganz trocken. Nach einer Weile beschreibt er uns den Weg zum Strand – gehen Sie unbedingt links, wenn Sie an die Küstenlinie kommen, rechts ist der Weg gefährlich – und wir schießen noch ein paar Fotos aus der Höhe vom schwarzen Sandstrand. Es ist schon zu spät für den ganzen Weg durch die Klippen hinunter.

Übrigens: Wenn Sie nach Taganana fahren, sollten Sie früher aufbrechen als wir an diesem Tag. Insgesamt mindestens sechs Stunden sind sicher nötig, wenn schädliche Eile vermieden werden soll. Auf dem Rückweg will sich der alte Mann unbedingt noch ein bißchen mit uns unterhalten. Wir tun ihm den Gefallen gerne, doch als wir schließlich wirklich weiter müssen, fängt er knapp 70jährige dennoch an zu weinen und seine Einsamkeit wird schreiend deutlich. Still und nachdenklich gehen wir zurück zum Auto – die Wirklichkeit hat die Idylle eingeholt.

Ein paar Tips zum Schluß, bevor die landschaftliche sehr reizvolle Rückfahrt über die Kämme des Anaga-Gebirges nach La Laguna den Tag beendet (denn wer will schon die Kurven-Orgie noch einmal genießen?). Rüsten Sie sich unbedingt mit Laufschuhen aus für diesen Ausflug. Und ein voller Tank wäre dort vielleicht auch nicht schlecht dort, wo weit und breit keine Tankstelle zu sehen ist. Wie wär´s mit fangfrischem gebratenem Tintenfisch im Restaurant Playa? Aber auch woanders ißt man durchschnittlich sehr gut. Um dem Dorfleben „aufs Maul zu schauen“ empfehlen wir unbedingt die Bar oben am Dorfeingang neben der Telefonzelle, wo Sie bestimmt keinen Touristen treffen. Sollten Sie von Santa Cruz zu diesem Ausflug starten und zwischendurch Appetit auf eine fabelhafte Grillplatte mit Meeresfrüchten bekommen, fragen Sie in San Andrés nach dem Restaurant „La Langostera“ – das Essen wird Sie so fröhlich machen wie der Preis.