Andrea Bolz, Deutschsprachige Kath. Gemeinde in Puerto de la Cruz
Liebe Schwestern und Brüder!
„Wenn dein Alltag dir arm scheint, klage ihn nicht an; klage dich an, dass du nicht stark genug bist, seine Reichtümer zu rufen“. So lautet ein Satz des Dichters Rainer Maria Rilke, den der große Theologe Karl Rahner ebenfalls in einem seiner Bücher erwähnt. Rahner ist bekannt für seine komplizierte Theologie, und bis heute ein Muss für alle, die Theologie studieren. Was aber vielen unbekannt ist, er konnte ganz exzellent über die sogenannten einfachen Dinge des Lebens schreiben. „Wenn dein Alltag dir arm scheint, klage ihn nicht an“. Der Alltag kann nichts dafür, dass er Alltag ist, nicht jeder Tag muss ein Festtag sein, es darf den alltäglichen Trott also geben. So wie unsere Lebenswochen nicht nur aus Sonntagen bestehen. Für Rahner ist dieser ganz gewöhnliche Alltag wichtig. Mir tut dies gut und entlastet mich, wenn ich wieder einmal zuviel von einem Tag erwarte und mich und meinen Alltag überfordere. „Wenn dein Alltag dir arm scheint, klage ihn nicht an. Klage dich an, dass du nicht stark genug bist, seine Reichtümer zu rufen“.
Der Alltag ist mehr als der tägliche Trott. Der Alltag gibt Sicherheit und Geborgenheit. Der Alltag kann auch ganz ungeahnte Tiefen haben, wenn wir ihn aufmerksam leben. Wer aufmerksam durch den Alltag geht, so schreibt der Theologe, der kann merken, dass „auch die kleinen Dinge unsagbare Tiefen haben“. Ein freundlicher Gruß, eine Begegnung mit Anderen, ein bewusstes Erleben und Gestalten des Alltags, nicht nur ein so dahinleben und sich treiben lassen im Sog des Normalen, des sich ständig Wiederholens. Der Alltag steckt voller reicher Schätze, die wir aber im gelebten Trott so gar nicht wahrnehmen. Darüber nachzudenken lohnt allemal. „Denn jeder Morgen und jeder Tag ist Anfang dem, dem ein Zauber inne wohnt“, wie Hermann Hesse in einem seiner Gedichte beschreibt. Wenn wir uns das bewusst machen, dann ist jeder neue Tag in Familie, Schule oder bei der Arbeit es wert – ihn als etwas Besonders zu betrachten, zu erleben und zu schätzen.
Zündfunke, 03.03.15
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