Höhlenkunde

Luft ist tief unter der Erdoberfläche oft sehr gesund. Es ist zwar seit langem bekannt, schien aber nichts als Zufall zu sein; Bergleute in bestimmten Schächte erkrankten seltener an Rheumatismus und an Bronchitis als ihre Nachbarn. Erst vor wenigen Jahrzehnten gingen Mediziner der Sache auf den Grund und förderten dabei diese Erkenntnis zutage: Im Berg herrscht eine ganz besondere Luft. Aus diesem Befund entwickelte sich die sogenannte Speläotherapie. Der Name leitet sich von dem lateinischen Wort „spelaeum“ (= Höhle) ab und bedeutet soviel wie „Behandlung durch Aufenthalt in Höhlen“. Selbst in medizinischen Wörterbüchern sucht man die Behandlung vergebens, obgleich sie Speläotherapie mittlerweile in Dutzenden Höhlen in der Bundesrepublik und Österreich, in Polen, in Ungarn, Rumänien und in der Sowjetunion praktiziert wird. Ihren Ursprung hat sie in de Kluterhöhle; ein bis zu 4,5 Kilometer langes Labyrinth am nördlichen Rand des Sauerlandes zwischen Hagen und Wuppertal. Im zweiten Weltkrieg wurde sie von den Bewohnern des nahegelegenen Ruhrgebietes als natürlicher Luftschutzkeller genutzt. Darunter waren auch Patienten mit Asthma bronchiale, die nach Kriegsende den Arzt Dr. Karl Hermann Spannagel von einer erstaunlichen Besserung berichteten. In der engen, feuchten Höhle konnten sie viel freier atmen als anderswo, und sie hatten wesentlich seltener unter Anfällen von Atemnot zu leiden. Das gab den Anstoß zur ersten medizisch-wissenschaftlichen Erforschung des Höhlenklimas. Sie ergab, daß die Luft im Klutertberg drei Besonderheiten hat:

Sie ist nur 10,2 Grad stets gleichbleibend kühl und zudem mit Wasserdampf gesättigt.

Sie ist extrem rein, enthält sogar weniger Schwebeteilchen als die Luft im Hochgebirge.

Sie ist mit winzigen Wassertröpfchen durchsetzt, die auffallend viel Ionen von dem Spurenelement Kalzium enthalten.

„Die Kombination dieser drei Faktoren“ , bestätigt Professor Helmut Hille vom Institut für Balneologie (= Bäderkunde) und Klimaphysiologie der Universität Freiburg im Breisgau, „wirkt krampflösend auf die verkrampfte Bronchialmuskulatur, und damit ist der Krankheitszustand beim Asthmatiker akut gebessert“. Diese Besserung hält längere Zeit über den Höhlenaufenthalt hinaus an. Auch dafür hat Professor Hille eine einleuchtende Erklärung; Erlebt der Asthmatiker erst einmal eine Besserung seines Zustandes, wird der Teufelskreis durchbrochen. Der Anfall von Atemnot erzeugt Angst, diese Angst vor dem Anfall provoziert prompt den nächsten Anfall – und so weiter. „Eine einzige Unterbrechung kann deshalb schon genügen, um eine Besserung von längerer Dauer zu erzielen“, versichert der Mediziner. Damit sind die Möglichkeiten der Speläotherapie bei weitem nicht erschöpft. Die Luft anderer Höhlen hilft gegen andere Erkrankungen. So sind primär chronische Polyarthritis (auf deutsch; Gelenkrheumatismus), Morbus Bechterew (eine chronische Entzündung der Wirbelsäule, die zur Versteifung führt), Arthrose (bedingt durch übermäßigen Verschleiß von Gelenkknorpel). Epykondylitis (besser bekannt als Tennisellenbogen) die Indikation für eine Kur im Gasteiner Heilstollen bei Badgastein in Österreich sein. Seine Entdeckung ist ebenfalls einem Zufall zu verdanken. Auf der – vergeblichen – Suche nach Gold wurden 1940 bis 1944 kilometerlange Stollen in den Radhausberg vorgetrieben. Zurück blieben künstliche Höhlen mit einem natürlichen Saunaklima von 38 bis 42 Grad Wärme, bei maximal 90 Prozent Luftfeuchtigkeit sowie einem relativ hohen Gehalt an dem schwach radioaktiven Edelgas Radon in der Luft. Diese Kombination der drei Faktoren ist einzigartig. Wie sie wirkt und was sie bewirkt, hat Chefarzt Dr. Carl Kammel erforscht; Wärme und Feuchtigkeit lassen die Körpertemperatur auf 39 Grad ansteigen. Wichtiger noch bei der Behandlung in der Höhle ist die Tatsache, daß während der Hyperthermie zwei bis dreimal soviel Radon vom Blut aufgenommen wird als unter den normalen atmosphärischen Bedingungen auf der Erdoberfläche. Seine schwache Radioaktivität schadet überhaupt nicht, beruhigt Dr. Kammel: „Das Radon ist bereits nach drei bis vier Stunden praktisch völlig wieder aus dem Körper abgeatmet“. Zwischenzeitlich jedoch reichert es sich im fettreichen Gewebe von Gehirn, Nerven und Hormondrüsen an. Auf diese Weise soll das eingeatmete Edelgas – unter anderem – die Blutbildung im Knochenmark ebenso anregen wie die Produktion der entzündungshemmenden Hormone in den Nebennieren.