Schwestern und Brüder!
Was sich damals in Jerusalem ereignet hat, muss grauenvoll gewesen sein. Nachdem ein Mann die ganze Nacht hindurch verhört, geschlagen und misshandelt worden war, wurde er frühmorgens zusätzlich noch ausgepeitscht. Anschließend schickte man ihn – mit dem Kreuzesquerbalken auf dem Rücken – den Weg nach Golgota hinauf, einem Hinrichtungshügel auf der Nordseite der Jerusalemer Altstadt. Dieser Ort wurde auch deshalb „Schädelstätte“ genannt, weil dort viele Hinrichtungen stattfanden und dieser Hügel direkt am Einfallsweg nach Jerusalem lag und von vielen Menschen täglich passiert werden musste. Sie sollten sehen und wahrnehmen, wie die römische Justiz Verbrechen ahndet. Auf diesem Hügel angekommen, wurde der Verurteilte dann an den Balken genagelt, aufgerichtet und starb nach einem mehrstündigen Todeskampf elendig durch Ersticken, Kreislaufversagen oder Herzstillstand. Bei dem Mann, von dem hier die Rede ist, handelte es sich um keinen Geringeren als Jesus von Nazareth, den wir Christen den Messias, den Erlöser nennen.
Damit aber nicht genug: Das Kreuz, welches damals auf Golgota aufgerichtet wurde, das wird auch heute immer wieder neu aufgerichtet. Bilder dazu werden uns frei Haus selbst in’s Hotelzimmer geliefert oder wir erleben diese in unserer unmittelbaren Umgebung. Wie viele Menschen wohl allein jetzt – in diesem Moment, wo wir hier in San Telmo versammelt sind, sterben? Sterben durch Krieg, Terror, Hunger, Krankheit oder Unfall? Das Kreuz Jesu, es wird noch immer aufgerichtet, es steht auch heute noch. Sicherlich nicht als Kreuz sichtbar wie damals, aber vom Empfinden her. Denn auch jetzt leiden doch Menschen, die das – nach unserem Dafürhalten – gar nicht verdient haben: Denken wir nur mal an die Angehörigen der in der Gemanwingsmaschine auf so tragische Weise ums Leben gekommenen Menschen. Erwachsene, Jugendliche, Kleinkinder. Oder denken wir an die Frau, Teil einer glücklichen Familie, die von heute auf morgen plötzlich an MS erkrankt; oder den Mann, der von einer auf die andere Minute einen Schlaganfall erleidet und sein Leben neu ausrichten muss; denken wir an den Campesino in Lateinamerika, der nichts anderes als seine Familie ernähren will und doch nicht weiß wie oder all die Menschen, die sich nicht durch Zwang unter ein Protektorat des Islamischen Staates stellen wollen und deshalb mit Todesdrohungen leben müssen. Geht das ungerechte Leiden nicht einfach weiter? Und wir? Ich habe das Gefühl, wir stehen diesem Leiden genauso hilflos gegenüber wie damals Johannes und Maria: ratlos, sprachlos, weinend und trauernd. Wir wissen nicht, was wir tun können, wo wir bei all dem anfangen sollen. Wir fühlen uns so allein gelassen – schrecklich allein gelassen. Das Leid wird so zum Stolperstein unseres Tatendrangs – mehr noch: es wird in vielen Fällen vielleicht sogar zum Stolperstein unseres Glaubens.
So stellen wir heute doch oft dieselbe Frage wie sie Jesus vor 2000 Jahren gestellt hat: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ Wo bist du, Gott, angesichts von so viel Leid? Vor allem, das in unseren Augen so ungerechte Leid ist es ja, das uns immer wieder mit Kopfschütteln fragen lässt: Warum ist das passiert? Warum mussten all diese Menschen sterben? Warum habe ich diese Krankheit?
Ja – das Kreuz bleibt für uns ein Ärgernis, eine Torheit, die unser Leben
durchkreuzt, die wir einfach nicht verstehen wollen – ja, die wir gar nicht verstehen können! Genauso erging es aber damals auch den Juden und Griechen, die den christlichen Glauben verstehen wollten. Das Kreuz – so wie Paulus es sagt – war den Juden ein Ärgernis. Sie forderten ein Zeichen, aber bitteschön eines, welches genau das beseitigt, was Leid in dieser Welt verursacht! Den Griechen war dieses Zeichen eine Torheit, weil sie darin keinen Hinweis auf Gott erkennen konnten. Doch genau mit diesen beiden Sichtweisen zeigt Paulus in seinem ersten Brief an die Korinther eindeutig auf (1,18), wie man eben die Bedeutung des Kreuzes nicht erfassen kann: Nämlich zum einen in dem Wunsch, dass Gott doch endlich handeln möge und dass er das Leid beseitigen solle. Zum anderen – und das war die griechische Denkweise – dass wir doch endlich das Leid mit unserem Verstand begreifen könnten, dann wäre es auch leichter zu tragen und zu ertragen. Aber beides wird durch das Kreuz Jesu nicht erfüllt. Gott hat an ihm nicht gehandelt, als er an diesem Kreuz hing und er handelt auch heute nicht direkt im Unrecht, so wie wir es gerne hätten und oft genug von ihm verlangen.
Weil er aber genau das nicht tut, deshalb wird Gott heute auch von vielen Menschen abgelehnt. Viele können nichts mit ihm anfangen, weil er scheinbar so schwach war, dass er sich kreuzigen ließ. Viele können an keinen Gott glauben, geschweige denn ihn verkündigen, der in größter Gottverlassenheit am Kreuz ruft: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ Doch genau in dieser Handlung, die er sich gefallen lässt, da liegt die Antwort, die sich zwar unserem Verstand und unserem Verstehen verschließt, dem Glauben aber offen steht. Denn wie heißt es im Psalm weiter: „Er hat nicht verachtet und nicht verabscheut das Elend der Armen. Er hat auf sein Schreien gehört.“ Jesus stirbt nicht in vermeintlicher Verlassenheit von seinem Vater, sondern er weiß um dessen verborgene Nähe. Trotzdem stellt er die Frage, die auch wir oft stellen: „Wo bist du?“ Nur: Er beantwortet die Frage nicht – er durchleidet sie!
Im Vertrauen auf Gott und dessen rettende Kraft, geht Jesus also in den Tod am Kreuz. Er steigt in das Reich des Todes hinab um deutlich zu machen, zu welcher Kraft und Liebe dieser Gott für uns fähig ist. Dieser Gott ist nicht so schwach, dass er sich kreuzigen lässt, sondern er ist so stark, dass er das aus freiem Willen tut – und zwar für uns! Durch dieses Leid und durch diesen Tod zeigt Jesus uns: Es gibt kein Leid, in dem Gott uns nicht liebt oder in dem er uns nicht nahe wäre. Aber wir müssen ihm das auch zutrauen, wir müssen uns ihm anvertrauen. Jesus kann seinem Vater so vertrauen, kann glauben, dass er an ihm handeln wird, wo doch nach unseren Maßstäben alles Handeln zwecklos und alle Hoffnung am Ende ist: im Tod. Aber Jesus zeigt uns die grenzenlose und rettende Zuwendung des Vaters, die aber so ganz anders ist, weil sie unser menschliches Verstehen letztlich doch übersteigt.
Nur dem Glaubenden bleibt die Erkenntnis: Ich kann in all den Situationen, wo ich eigentlich nur noch kopfschüttelnd vor dem eigenen oder dem Kreuz meiner Mitmenschen stehe, dem Vater genauso vertrauen, wie Jesus ihm vertraut hat. Wir brauchen vor dem Leid nicht zu fliehen, weil wir im Glauben auf einen handelnden Gott vertrauen. Wir können durch unser Aushalten im Leid ein Hoffnungszeichen setzen für andere, die in ihrem Leid und in ihrem Kreuz alles Vertrauen und allen Glauben verloren haben. Und wir können letztlich den Tod annehmen – nicht als etwas, was man verdrängen muss, sondern was zum Leben dazu gehört. Sicherlich: Es wäre vermessen zu sagen, dass glaubende Menschen keine Angst vor dem Sterben haben. Schließlich können wir uns das Sterben und das Tot-Sein schwerlich vorstellen. Aber der Tod Jesu am Kreuz, sein Vertrauen in Gott will uns auch deutlich machen, dass wir ruhiger, gelassener auf den Tod zugehen können, weil wir versöhnt in die Arme und die Geborgenheit eines liebenden Vaters hinein sterben.
Wenn wir deshalb jetzt gleich das Kreuz verehren, dann sollten wir daran denken, dass die Antwort auf das Leid nicht im Erkennen von Ursachen liegt und nicht im Fordern von Zeichen der Nähe Gottes. Die Antwort liegt vielmehr im Glauben, im Schauen auf das Kreuz, auf das rettenden Handeln Gottes. Denn dieser Gott war dabei, als sein Sohn – wie Millionen vor und nach ihm – verzweifelt rief: „Mein Gott, warum hast Du mich verlassen?“ Aber genau dieser Gott – und das ist mein fester Glaube – wird auch bei uns sein, bei ihnen und bei mir, wenn wir am Ende unseres je eigenen Lebens, nach allem Schmerz und allem Loslassen, wie Jesus gelassen und vertrauensvoll beten: „Vater, in deine Hände lege ich mein Leben.“
Predigt am Karfreitag 2015
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