Predigt zum 2. Fastensonntag 2015 (01.03.)

L II: Röm 8, 31b-34 / Ev.: Mk 9, 2-10
Schwestern und Brüder!
Vor kurzem las ich von folgender Begebenheit: Der Moderator einer kleineren BBC-Radioreihe in London gelangte durch Zufall an Aufnahmen einer ihm völlig unbekannten Sängerin. Aus einer Laune heraus, spielte er sie dann im Radio – und trat damit eine gewaltige Lawine los. In den Pubs verstummten schlagartig Gespräche. Autos fuhren an die Seite, und Menschen saßen mit offenen Mündern und noch offeneren Ohren vor den heimischen Radiogeräten. Zum Glück, war es nur eine kurze Sendung auf einem kleinen Sender. Doch unmittelbar danach brachen sowohl Telefonsystem als auch Internetauftritt dieses Senders in sich zusammen. Aufgewühlte Menschen fragten, wem diese warmherzige Stimme gehöre, die da ohne Umwege vom Ohr direkt in das Herz so vieler gelangt war?
Bei der Sängerin handelte es sich um Eva Cassidy, eine junge Amerikanerin, schüchtern, ängstlich und immer viel zu nervös, um sich zu trauen, vor mehr als 10 oder 20 Menschen zu singen. Mit Anfang 30 ist sie – weitgehend unbekannt – an Leukämie verstorben. Eher durch Zufall gelangten also ihre Lieder ins Radio. Und heute? Heute werden ihre CDs, die man aus früheren Mitschnitten zusammengebastelt hat, millionenfach verkauft – wegen dieser Stimme. Ich habe diese vorher auch nicht gekannt, aber per You Tube jetzt das ein oder andere Lied gehört. Und ich sage nur: Genial. Diese Stimme, die Menschen so schnell und rasch wie die Hörerinnen und Hörer in London ihr hier und jetzt vergessen lässt, diese Stimme scheint aus einer anderen Welt zu kommen. Ja, sie verwandelt die Welt um einen herum, weil sie Menschen in ihrem Innersten berührt und eine geheimnisvolle Tiefe des Lebens zum Leuchten bringt. Oder anders gesagt: im Hören dieser Stimme, da schimmert etwas auf aus einer Welt, die wir so nicht kennen.
Das heutige Evangelium, die Geschichte der Verklärung Jesu, erzählt uns auch von einem solch verwandelten Augenblick. Dabei haben Bibelausleger aus dem Zeitalter der Aufklärung versucht, uns die Geschichte innerhalb der uns bekannten Welt zu erklären – so nach dem Motto: Jesus habe mit seinen Jüngern auf einem Berg übernachtet. Dabei sei er früher als sonst aufgestanden und es sei noch recht neblig gewesen. Im Gegenlicht habe er dann auf die Jünger so gewirkt, als stünde er ganz in weiß da, und weil Jesus die Schrift rezitiert habe, meinten sie Moses und Elia zu hören. Schlaftrunkene Jünger also, Frühnebel im Gebirge und ein laut lesender Jesus – im Zeitalter der Aufklärung ist das der ganze Zauber der Verklärung.
Aber soll es das wirklich gewesen sein? Manchmal bleibt mir das Lachen über eine solch rationalistische Bibelauslegung buchstäblich im Halse stecken, weil diese Ihnen und mir nachdrücklich vor Augen führt, wie rasch wir doch an die Grenzen unserer Vorstellungswelt stoßen. Aber wenn wir uns nach unseren üblichen Maßstäben einen Reim auf die Verklärung Jesu machen wollten, ich glaube wir kämen nicht viel weiter als die Rationalisten des 18. Jahrhunderts. Im Gegenteil, wir haben es ja bei ihnen mit ehrbaren und aufrichtigen Versuchen zu tun, Religion in die Grenzen unserer Erfahrung einzugliedern. Und doch ist genau dies unmöglich. Die Verklärung Jesu stößt mit Gewalt an die Grenzen unserer Erfahrung. Wir erleben hier mehr, als wir begreifen, und können es doch nicht fassen.
Der ganze Text ist ja überreich an religiösen Motiven und Symbolen. Die Verklärungsgeschichte, sie ist eine grandiose Komposition, das Resultat eines Überlieferungsprozesses in mehreren Strängen, in welchen das Herzstück der christlichen Botschaft zusammenläuft. Moses, Elia, Taufe, Inthronisation, Auferstehung, alles kommt vor. Die Überlieferung selbst und auch der Evangelist ziehen alle Register, die ihnen zur Verfügung stehen. Und das müssen sie auch tun, denn was sie sagen wollen, ist ja so gewaltig. Weit über die Grenzen unserer Erfahrung wagen sie sich hinaus: Gott ist anwesend in dieser Welt, er erscheint in einer Person und er verwandelt die Welt. Was hier in diesem herausgehobenen Moment erlebt wird, das ist faszinierend und furchteinflößend zugleich. Einmal ist es umfassende Dankbarkeit, deren Ursprung wir nicht erklären können; dann eine himmlische Geborgenheit, für die wir keinen Anlass wüssten und dazu ein tiefes Vertrauen, dessen Grund wir nicht auszumachen wissen. Ja, hier erahnen und spüren einzelne Menschen, dass mit ihrem Dasein etwas ganz besonderes gemeint ist.
In der Geschichte des Christentums spielt diese Verklärung Jesu eine ganz wichtige Rolle. Deshalb wird sie auch in der Kunst in unzähligen Bildern dargestellt – wobei ich finde, dass hier das schönste Bild dem italienischen Maler und Architekten Raffael gelungen ist, der darüber allerdings gestorben ist. In den orthodoxen Kirchen ist die Verklärung Jesu ein hoher Festtag und kaum ein Kirchenvater hat es versäumt, zu dieser Geschichte etwas zu sagen. In unserem kulturellen Kontext haben wir allerdings die Grenzen der Erfahrung so eng gezogen, dass wir allerlei Mühen mit dem Text haben. Drei Aspekte will ich deshalb herausheben.
Zunächst und zuerst: Gibt es so etwas überhaupt? Die ganzen Schwierigkeiten mit dem biblischen Text bekunden doch unser modernes Misstrauen, dass jenseits der Grenzen unserer Erfahrung eigentlich nichts mehr sein kann. Und doch gibt es Erfahrungen, die genau diese Grenzen sprengen und eine Tür aufstoßen, von der wir heute schlussendlich noch nicht wissen, wohin sie führt. Von dieser Tür leben letztlich alle Religionen: sie erinnern uns unaufhörlich an die Grenzen unserer Erfahrung; sie blicken hinüber, um von dort einen verwandelten Blick auf unsere Welt zu werfen.
Wie armselig wäre es, wenn uns dieser Blick verloren ginge. Wie trostlos wäre eine Welt, die sich nur noch in ihrer seichten Selbstgenügsamkeit badet. Der deutsche Literaturwissenschaftler und Schriftsteller Rüdiger Safranski hat dafür ein schönes Wort gefunden: Transzendenzverrat. Wir narkotisieren ständig unsere Sinne und wir amputieren dauerhaft unsere Welt. Wir verraten uns selbst, wenn wir aufhören, uns von den Einbrüchen jener anderen Dimension der Wirklichkeit aufscheuchen und irritieren zu lassen. Es ist, zugegeben, schwierig, anstrengend und mühsam, über Dinge zu reden, die wir nicht fassen können und die uns doch bewegen. Alle religiösen Ausdrucksformen sind darum Bilder; auch unsere Geschichte ist ja nur ein großes Bild, Annäherung an eine Wirklichkeit, die größer ist als wir. Doch sollte uns unsere geistige Bequemlichkeit nicht davor zurückhalten, das Unmögliche zu wagen: nämlich darüber nachzudenken und darüber zu reden, was jenseits dieser Grenzen ist.
Natürlich fragen wir dann zweitens, wo dieser Berg der Verklärung ist. Könnte er wirklich auch ein Lied aus dem Radio sein? Man muss hier antworten, was Theologen immer antworten und was uns auch so beliebt macht: Ja und Nein. Nein, weil der Einbruch von Transzendenz in unser Leben ungleich mehr ist als eine gehobene Stimmung, eine gute Laune oder ein intensives Hochgefühl. Denn dann wäre je nach Vorlieben und kulturellem Milieu die Oper, das Museum oder gar der Ballermann auf Mallorca die Wiege europäischer Religion. Ja, muss die Antwort hingegen lauten, wenn es darum geht, was beim Hören des Liedes passiert. Die Verklärung von der hier die Rede ist, geht durch Mark und Bein, sie ergreift und verwandelt Menschen ungewollt – und genau das kann überall geschehen.
Ein hilfreiches Kriterium liefert drittens schließlich die biblische Verklärungsgeschichte selbst. Der Gradmesser der Verklärung ist die Kraft ihrer Verwandlung. Petrus wäre gern für immer auf dem Berg der Verklärung geblieben. Jesus jedoch steigt herab vom Berg und das erste, was er tut, ist die Heilung eines kranken Jungen, dem niemand helfen konnte. Der Kirchenvater Augustinus hat daher in einer Predigt dem Petrus zugerufen: „Komm auch du herab vom Berg, du musst arbeiten und schwitzen!“
Verklärung meint also: Niemand ist nach einer solchen Erfahrung der, der er vorher war. Das ist das Wesen einer Verwandlung: wo immer wir über die Grenzen unserer Erfahrung hinaus geraten, da werden wir andere, und auch die Welt um uns wird anders. Wo aber die Welt anders wird, ist der Berg der Verklärung niemals fern. Beispiele gefällig?
Nehmen wir Albert Schweitzers Einsicht in die Ehrfurcht vor dem Leben. Die geht auf eine solche tiefe, fast mystische Einsicht zurück. Er hat immer wieder und in mehreren Anläufen darum gerungen, diese Erleuchtung zu beschreiben. Oder denken wir an den amerikanischen Bürgerrechtler Martin Luther King. Der benennt den Berg der Verklärung wortwörtlich. Am 3. April 1968 sagt er: „Schwierige Tage liegen vor uns. Aber das macht mir jetzt wirklich nichts aus. Denn ich bin auf dem Gipfel des Berges gewesen. Ich mache mir keine Sorgen mehr. Wie jeder andere würde ich gern lange leben. Aber darum bin ich jetzt nicht besorgt. … ER hat mir erlaubt, auf den Berg zu steigen. … Deshalb bin ich glücklich heute Abend. Ich mache mir keine Sorgen wegen irgendetwas. Ich fürchte niemanden.“ Am folgenden Tag wird er von einem Attentäter erschossen.
Die Erzählung von der Verklärung Jesu, sie ist zu allen Zeiten eine Geschichte des Muts. Denn es braucht Mut, um das sichere Geländer der Grenzen unserer Erfahrung zu verlassen und aufzubrechen. Von nichts und niemandem sollten wir uns einreden lassen, unser Leben sei so seicht wie eine kleine Pfütze. Nein, unser Leben ist so tief und unermesslich wie der Atlantik da draußen. Genau das will uns auch der Evangelist zurufen: Vergesst in eurem Leben den Berg der Verklärung nicht. Es gibt ihn, für jede und jeden von uns anders, aber es gibt ihn. Amen.

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